An diesem stillen Herbstmorgen sind die Schüler und Schülerinnen der 3. und 4. Klasse des Paul Reinhart Schulhauses aus Weinfelden im Wald unterwegs. Sie knien am Boden und vermessen gerade die Länge des höchsten Baumes im Wald mittels der Höhenbestimmungsmethode. Vier Kinder messen die Länge eines Fadens mit dem Meterstab ab, die anderen Kinder sind alle 5m an dem gespannten Faden platziert, damit sie am Schluss die Summe der Einzellängen zusammenzählen können. Die Naturpädagogin, die die Schulklasse zu diesem Walderlebnis begleitet, erklärt, wie sie nun die Länge des Baumes berechnen können. Alle lauschen gespannt, als das Ergebnis von stolzen 28 Meter Länge verkündet wird. Staunend über diesen Baumriesen, den sie mit einem Ast, Schere, Massstab und Wolle ausgemessen haben, packen sie ihre Materialien wieder zusammen. Weiter geht es auf Entdeckungstour an ihrem Walderlebnistag.

Unter dem Motto «Walderlebnisse» bietet die Pädagogische Hochschule Thurgau beim Waldhaus Bärenhölzli in Lengwil, im Waldschulzimmer in Weinfelden und im Schollenholzwald in Frauenfeld erlebnisorientierten Waldunterricht für Schulklassen aller Stufen an. Das Angebot «Walderlebnisse» der Pädagogische Hochschule zusammen mit einem Team von Naturpädagoginnen bietet die erlebnisorientierten Walderlebnisse für Schulklassen aus dem Kanton Thurgau an. Diese eintägigen oder
…die Sinneserfahrungen und die Bewegung stehen im Zentrum
mehrtägigen Waldtage für alle Schulstufen können von allen Schulen im Kanton Thurgau gebucht werden. „Je nach Klasse und Lehrperson ändern wir die Inhalte und gehen auf spezielle Wünsche ein. Bei unserem Angebot gibt es drei zentrale Aspekte: Erstens, die Kinder brauchen Zeit, um im Wald anzukommen, die Eindrücke aufzunehmen und diese auch zu verarbeiten. Deshalb bieten wir keine Angebote unter drei Stunden an. Der zweite Aspekt ist, dass die Sinneserfahrungen und die Bewegung im Zentrum stehen. Gerade die Natur bietet hier die passende Grundlage, um sinnvollen und bewegenden Unterricht durchzuführen. Drittens haben wir im Wald «Lehrzeiten» und «Leerzeiten». Die Leerzeiten sind genauso wirkungsreich und wichtig wie die Lehrzeiten.

Oft erinnern sich die Kinder an das, was sie in der Pause erlebt haben.“, erzählt uns Nicole Schwery, sie ist Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und leitet dort unter anderem das Angebot Walderlebnisse. Bereits seit 15 Jahren arbeitet sie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Bereich der Natur- und Umweltbildung und vermittelt damit einen umfassenden theoretischen und praktischen Hintergrund im Wald. „Ich verbringe einen Teil meiner Arbeitszeit und einen Grossteil meiner Freizeit im Wald und in der
…die positive Wirkung liegt an der Dreidimensionalität des Lebensraumes und der nachweislich beruhigenden Wirkung des Grüns
Natur. Dabei ist es immer wieder erstaunlich, welche Wirkung der Wald auf mich, aber auch auf die Klassen und Gruppen, die ich im Wald unterrichte, hat.“, sagt die Dozentin. Gerade bei Gruppen, mit denen sie und ihr Team über mehrere Tage im Wald sind, unterstützt sie der Wald als Vermittlungsort, da er eine positive Wirkung auf die Gruppe ausübt. Das liegt unter anderem an der Dreidimensionalität des Lebensraumes und der nachweislich beruhigenden Wirkung des Grüns. Für Nicole Schwery ist der Wald ein Kraftort, für die Arbeit wie auch für sie selbst.

Waldpädagogik stimuliert die Sinne
Der Wald ist nicht nur Kulisse, sondern effektiver Bestandteil bei der Vermittlung der Heranwachsenden, er wird aktiv integriert, dadurch werden sie ermutigt und inspiriert. Die Waldpädagogik ist ein Teilbereich der naturbezogenen Umweltbildung. Waldpädagogik ist die sinnvolle Vermittlung von Naturinhalten am Beispiel Wald. Die Art und Weise der Vermittlung ist besonders auszeichnend, denn alle fünf Sinne sollen bei der Waldpädagogik angesprochen werden. Der Wald stimuliert das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Alle
Der Wald stimuliert das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten
Menschen lernen anders, aber wir lernen alle über die Sinne. Je vielfältiger wir die Sinne beim Vermitteln ansprechen können, desto mehr kann in Erinnerung bleiben. Die Waldpädagogik kann auch ein geeignetes Hilfsmittel sein, um abstrakte Begriffe wie zum Beispiel Nachhaltigkeit zu veranschaulichen. „Im Wald können neben den klassischen Naturthemen jedoch auch hervorragend andere Fächer wie Mathematik, Sprachen, Sport oder Gestalten vermittelt werden.“, sagt uns Nicole Schwery. Beim Mathematikunterricht der Bäume ausmessen, erfahren sie nebenbei auch gleich noch weitere wichtige und interessante Dinge zu Bäumen, auf die sie im Schulzimmer drinnen gar nicht gekommen wären.
Der Raum für Abenteuer, Bewegung und Freiheit unterstützt die Resilienz
Kein Blatt, kein Ast in der Natur gleicht dem anderen und alles kann man irgendwie verwenden. Vielfach ist man der Meinung, draussen wird nur gespielt und herumgerannt und nichts gelernt. Abenteuer, Wildnis, Bewegung – hier steckt das Potenzial der Waldpädagogik der Zukunft. Erlebnisse wie Klettern und Schnitzen, Abenteuer wie Waldnächte und Schnitzeljagden, echte Erlebnisse mit Freunden und Schulkameraden in der Natur, können Türöffner sein für Schule und Freizeit, um den
Der Wald ist ein Raum für Abenteuer, Bewegung und Freiheit.
Kindern die Natur wieder näher zu bringen und das «wilde Kind» wieder zu entdecken. Das sind die besten Voraussetzungen, um die Resilienz bei Kindern zu unterstützen. Wie das in das Konzept der Walderlebnistage integriert wird, verrät uns Nicole Schwery: «Meiner Ansicht nach kann der Fokus auf echte Erlebnisse eine Antwort auf die Naturentfremdung sein. Und hier kann die Waldpädagogik eine entscheidende Rolle spielen. Der Wald ist ein Raum für Abenteuer, Bewegung und Freiheit. Dies sind Bedürfnisse von Kindern, die häufig wegen vorsichtigen Eltern nicht mehr ausgelebt werden dürfen und die die digitale Welt nicht authentisch abdecken kann.“

In dem Waldschulzimmer in Weinfelden haben die Schüler und Schülerinnen sich inzwischen zum Znüni um das Feuer gesetzt. Jeder packt seine Box aus und beisst herzhaft in das Pausenbrot. Die Naturpädagogin aus dem Walderlebnisteam der Hochschule, die die Gruppe an diesem Morgen begleitet, ist von der Genossenschaft Feuervogel für Naturpädagogik. Sie bereitet auf dem offenen Feuer Brennnesselchips zu. Es dampft und zischt, während sie mit den grossen Holzkochlöffeln die Brennnesselblätter dreht und wendet. Auf die Frage, wer schon mal Brennnesselchips probiert hat, meldeten sich zwei bis drei Schüler, die in der Waldwoche im Kindergarten die Chips schon mal gegessen hatten. Die überwiegende Mehrheit probiert an diesem Waldtag die feinen knusprigen Brennnesselchips zum allerersten Mal. Während die einen nicht genug bekommen können, kauen die anderen noch etwas zaghaft auf den grünen Blättern herum.

Das Wissen wird nebenbei erworben
Mit Überzeugungskraft bei Lehrpersonen und Schulen, dass sie noch mehr Zeit mit ihren Klassen im Freien verbringen sollen, argumentiert Nicole Schwery so: „Die Regelmässigkeit ist wichtig, um den Lebensraum Wald kennenzulernen. So kann ein Kind die Veränderung im Wald miterleben und bewusst wahrnehmen. Das sind Kompetenzen, die gerade der neue Lehrplan fördern möchte. Die Regelmässigkeit ist aber auch wichtig, um eine Beziehung zum Lebensraum aufzubauen und
Die Regelmässigkeit ist wichtig, um den Lebensraum Wald kennenzulernen. So kann ein Kind die Veränderung im Wald miterleben und bewusst wahrnehmen
negative Erlebnisse auszubalancieren. Bei einem eintägigen Angebot kann es sein, dass es gerade an diesem Tag schüttet und regnet. Häufig ist das zwar auch ein sehr schönes Erlebnis, aber es können sich auch negative Erinnerungen bilden. Wenn das Kind keine weiteren Möglichkeiten hat, in den Wald zu gehen, ist die einzige Erinnerung, die damit verbunden ist, eine negative.“
Wissen wird in der Natur nebenbei erworben. Die meisten Kinder profitieren von den Erfahrungen an einem Walderlebnismorgen und freuen sich sehr darauf, in den Wald zu kommen und erleben die Stunden als ein positives Erlebnis. Nur schon die Bewegung und das Lernen durchs Spiel im Wald sind oftmals Anlass zur Freude. Es gibt Klassen, die im Wald richtig aufblühen. Es kommt aber auch vor, dass sich Kinder im Wald nicht wohlfühlen, weil sie den Lebensraum noch nicht kennen.

Fragen wir am Schluss an diesem Waldmorgen in Weinfelden die Schüler und Schülerinnen, was ihnen heute gefallen hat. „Mir hat heute am besten gefallen, den Baum mit den Stöcken und Blättern am Boden als Bild zu legen“, sagt ein Mädchen. Ein Junge meint: „Mir hat gefallen, mit dem Werkzeug in die Nuss zu bohren und die Sachen im Wald zu suchen!“ Die anderen stimmen zu. Als die Lehrerin an der Reihe ist, sagt sie „Ich habe heute die Brennnesselchips gut gefunden, weil ich sie zum ersten Mal probiert habe!“

Weiterführende Links
Starteseite Fachstelle NaTech der PHTG
Waldererlebnistagen für Schulklassen im Thurgau
Draussen unterrichten Seite mit Tipps und Hinweisen rund um das Unterrichten im Freien

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