Nahrungsnetze für Artenvielfalt

Interview mit der Autorin Sigrid Tinz

Um eins geht es nicht in diesem Buch. Ums «Fressen oder Gefressen» werden, sondern in Wahrheit ums «Leben und Leben lassen», schreibt die Autorin Sigrid Tinz. Es ist die frische Leichtigkeit, wie sie ihr Buch geschrieben hat, was uns auf Anhieb so gut gefällt. Die Szenen im Nahrungnetz sind jedem bekannt,  die sich täglich im Garten, Park, Wald und Wiese abspielen. Ob am Teich, Bach oder rund um den Stall, die Fülle von Anpassungsmechanismen, die vor unserer Nase Tag täglich geschehen und einfach übersehen werden.

Mit ihrem Buch macht Sigrid Tinz deutlich, warum auch die unscheinbaren, unbeliebten und unbekannten Arten im grossen Netzwerk der Natur so wichtig sind. Dazu nimmt die Geoökologin verschiedene Lebensräume im Garten und in der Landschaft genauer unter die Lupe und beschreibt unterhaltsam und fundiert, wie wichtig die einzelnen Akteure der Nahrungsnetze und ihre komplexen Beziehungsgeflechte sind. Gartenboden, Blumenbeet, Wiese oder Mauer werden so zu Schauplätzen des Fressens und Gefressenwerdens. Im Vergleich zu den spektakulären Nahrungsnetzen der ostafrikanischen Savanne oder des arktischen Meeres ist vor unserer Haustür alles ein bisschen kleiner und unspektakulärer, bei genauer Betrachtung aber genauso spannend und schützenswert.

Mit diesem Buch wächst das Verständnis für die Bedeutung der vielfältigen Beziehungen innerhalb der Ökosysteme – vor allem für uns Menschen. Ihr letztes Kapitel «Menschen im Nahrungsnetz» passt so gut zu unserem Titelmotto «Netzwerk Natur». Dieser Abschnitt aus dem Buch : Biodiversität erzeugt durch die Mannigfaltigkeit aber kein Lebensdurcheinander, wie man es vielleicht vermuten könnte, sondern ein fein aufeinander abgestimmtes System, in dem es auf jede Art, jedes Individuum und manchmal auf Tage und Minuten in deren Lebenszeit ankommt. So wie jedes Wesen seine ökologische Nische hat, hat jeder Vorgang sein ökologisches Zeitfenster. Dass uns diese Fülle des Lebens oft wie ein wuseliges Gewimmel vorkommt, liegt daran, dass wir die Gesetzmäßigkeit noch nicht durchschauen und die Logik dahinter erst nach und nach erforscht wird.

Nature Flow: Wie versuchst du als Referentin, die Tatsache zu vermitteln, dass der Mensch sich als Faden bzw. Knoten in unserem Lebensnetz sieht und nicht als Mittelpunkt?

Sigrid Tinz: Das hängt davon ab, mit wem ich spreche, wo die Teilnehmenden jeweils stehen mit ihrem Wissen. Wichtig finde ich zum Beispiel, dass wir ein Gefühl dafür haben, wie wenig wir wissen. Ich erzähle gerne davon, als die Menschen noch dachten, die Erde sei eine Scheibe und der Mittelpunkt des Universums. Das finden wir Heutigen ja eher albern. Aber: der gesunde Menschenverstand hatte keinen Grund zu der Annahme, es könnte anders sein. Die Vorstellung, auf einer sich rasend schnell drehenden Stein-Feuer-Kugel zu wohnen, die sich mit Tausenden und Millionen anderen in einer ewigen Weite bewegt, ist mit dem Verstand auch heute noch schlecht zu fassen. Wir wissen es einfach, weil die Wissenschaft es bewiesen, erklärt und dargestellt hat und Astronauten Fotos gemacht haben. Und so ähnlich ist es mit unserem Wissen über Biodiversität und wie alles mit allem zusammenhängt. Da sind wir ökologisch vielleicht in etwa auf dem Stand wie die Menschheit astronomisch zu den Zeiten von Kopernikus und Galilei. Nicht die Erde als Mittelpunkt des Universums – aber der Gärtnernde als Mittelpunkt des Gartens. Als Beispiel nehme ich dann oft die Blattläuse. Blattläuse saugen an Pflanzen. Der Mensch will seine Pflanzen lieber ohne Läuse haben. Gift nehmen viele nicht mehr, das schädigt auch andere Arten. Aber weg müssen die Läuse schon, also werden sie abgewischt oder mit Öl und Seifenlauge erstickt. Ökozentrisch gesehen sind Blattläuse und ihre Eier das Fressen vieler Tiere, anderen Insekten zum Beispiel, die dann wieder von Vögeln gefressen werden können und so weiter. Wer Blattläuse vernichtet, nimmt all denen die Nahrungsgrundlage weg. Jede bekämpfte Blattlaus ist ein fehlender Faden im gigantischen Nahrungsnetzwerk, das so mehr und mehr Löcher bekommt – und irgendwann reißt dann auch der Faden, auf dem der Mensch sitzt. Ob wir uns im Mittelpunkt oder woanders in diesem Netz sehen ist dann eigentlich egal, wenn es sich von allen Seiten aufribbelt.

Die Welt zu retten, klingt nach einer Mammutaufgabe, habe ich bei dir gelesen. Wenn du 3 Wunschziele, als Bundeskanzlerin, WTO-Vorsitzende oder CEO bei Bayer frei hättest, was würdest du sofort umsetzen?

CEO bei Bayer oder Bundeskanzlerin – ich glaube, die würden mich gar nicht nehmen. Deswegen fällt es mir schwer zu überlegen, was ich da machen würde. Aber frei nach dem Song „Wenn ich König von Deutschland wär“ würde ich Gärten unter Naturschutz stellen. Dass ein Stück Natur für einen Moment der Ewigkeit mehr oder weniger zufällig jemands Besitz ist, heißt für mich nicht, dass wir damit machen können, was wir wollen. Wie das im Einzelnen aussäe und wie streng, müsste man sehen, aber in einem Garten mit englischem Rasen, Hecke aus Kirschlorbeer  und Schottervorgarten, mit Laubsauger, Mähroboter und Wildkrautflämmgerät, da würden doch mal die Gartenschutzbeauftragten vorbeischauen und mehr oder weniger freundlich Hilfe anbieten. So wie der Tierschutz, der Denkmalschutz oder das Jugendamt.  Und ich würde öffentlichen Grün, Straßensäume, weniger mähen und stutzen, mehr Hecken und Wiesen für alle. Und damit auch für den Artenschutz. Insgesamt, mehr Wildnis würde ich verfügen. Überall da, wo es nur optisch stört, wenn die Natur wächst wie sie will – da dürfte sie bleiben, wenn ich König von Deutschland wäre.

Distelfink bei der Nahrungssuche in den blühenden Disteln

Was rätst du jedem, der nicht in einer dieser einflussreichen Position sitzt?

Blattläuse in Ruhe lassen, zum Beispiel. Aber im Ernst: Klein anfangen bringt viel, am besten mit dem, was leichtfällt. Das geht auch, wenn man keinen Garten hat. Weniger Fleisch zu essen, ist einer der Ansatzpunkte. Weltweit wird ein Drittel der Getreideernte an Tiere verfüttert. Bis zu 90 Prozent der Nahrungskalorien gehen dabei verloren, weil die Tiere sie zum Aufbau der eigenen Körpersubstanz benötigen. Würden wir direkt die Pflanzen essen, und die Nahrungskalorien nicht über den Umweg über Schwein, Kuh oder Huhn zu uns nehmen, dann würden von der gleichen Fläche Acker viel mehr Menschen satt. Oder es müsste nur noch ein Bruchteil der Anbaufläche so intensiv als Ackerland genutzt werden – und würden damit nicht als Raum für die Entfaltung der Nahrungsnetze ausfallen. Und: ob im Kleingarten oder im Stadtpark, bitte nicht über Brennesseln und Disteln und anderen Wildwuchs beschweren oder darüber, dass Laub liegen geblieben ist . Wenn man denkt: »Herrje, wie sieht es denn hier aus?« dann ist es für die Biodiversität genau richtig.

Wie können wir es lernen in Nahrungsnetzen zu denken, wie du es in deinem Buch empfiehlst?
Nehmt ein Blatt Papier und malt euer Lieblingstier in die Mitte. Einen Singvogel, einen Schmetterling. Drumherum malt ihr dann alles, was das Tierchen frisst, von wem es gefressen wird, was mit seinen Hinterlassenschaften passiert. Muss gar nicht fachlich korrekt vollständig sein, aber da kommen dann einiges an Pflanzen, Insekten, Raubtierchen und Mikroben zusammen. Und für alle diese Lebewesen macht man dann das gleiche … so habe ich die Skizzen gemacht für das Buch – und war schnell bei den wirrsten Grafiken der Welt.

Die Illustratorin hat es dann zum Glück wieder entheddert. Aber wenn man all diese Zusammenhänge und Verbindungen aufmalt, merkt man leibhaftig, wie und was alles miteinander zusammenhängt. Und was wichtig ist, erkennt man auch. Wenn man, sagten wir mal, einen Schmetterling genommen hat als Mittelpunkt des Netzes, sieht man auf einen Blick, dass Nektarpflanzen wirklich nur ein ganz kleiner Teil der Bedürfnisse erfüllt. Es braucht auch Laub und alte Stauden, denn so überwintern oft die Eier, und Schmetterlinge brauchen Raupenfutterpflanzen, Brennnesseln und Disteln sind das ja oft.

Warum sollten wir wieder mehr Wildnis wagen? 

Weil sich in sich selbst überlassenen Ecken und Gebieten eine neue Dynamik entwickeln kann, die sich an die sich verändernden Gegebenheiten anpasst – oder anpassen kann. In Naturschutzgebieten versucht man ja den Status Quo zu bewahren, Moor oder Wiesen würden verschwinden, verbuschen, wenn wir sie sich selbst überlassen würden und nicht die Wiesen Mähen oder Birkenschösslinge rausreißen würden. Auch wichtig, klar, aber man nimmt so dem Lebensraum die Möglichkeit, sich in seiner eigenen Dynamik zu entwickeln, also, dass möglichst viele Arten versuchen können, sich an die neue Dynamik anzupassen. Weil wir keine Ahnung haben, welche das genau sein könnten, sollten wir versuchen, sorgsam mit allen, allen, allen Arten umzugehen; egal ob sie uns gefallen, als Nützlinge oder als Schädlinge gelten, lecker schmecken oder einfach lästig und bei Bauvorhaben im Weg sind. Ich stelle mir immer vor, dass es zu Zeiten der Dinosaurier ja schon Säugetiere gab, aber unscheinbar und als Randerscheinungen. Nach der Katastrophe waren sie die Spezies, die gut in die neue Zeit und in die neue Welt passten. Wer weiß, hätte es damals schon Menschen gegeben, hätten sie vielleicht für T-Rex und Brontosaurus Schutzgebiete ausgewiesen, die kleinen Felltiere aber bekämpft, damit sie den Dinos nicht in die Quere kämen. Das Sterben der Saurier hätte das nicht aufgehalten, aber die Ausbreitung der Säugetiere vielleicht verhindert. Das wäre doch sehr schade gewesen. Deswegen braucht man auch Wildnis, echte, wo niemand eingreift, wenn die Birke alles verbuscht, die Springkräuter tanzen und die Borkenkäferpopulation dank reichlich Totholzfutter explodiert, in großen Gebieten und in kleinen Ecken im Garten, im Park, in der Stadt, überall. Vor allem braucht es von beidem mehr, Naturschutzgebiete und Wildnis.

Video von Nature Flow zur Ausgabe „Netzwerk Natur – das sind WIR“

Würde man die gesamte Erdgeschichte in einen 24-Stunden-Tag pressen, dann würde der moderne Mensch erst zwei Minuten vor Mitternacht als neue Art auftauchen. Um nochmals den Abschnitt in deinem Buch anzusprechen „So wie jedes Wesen seine ökologische Nische hat, hat jeder Vorgang sein ökologisches Zeitfenster“, welches ökologische Zeitfenster stünde dem Menschen tatsächlich zu, was er jedoch komplett falsch verstanden hat?

Hm –  was wem zusteht … ich glaube nicht ehrlich gesagt, dass  Universum oder Natur nach solchen Kategorien funktionieren. Sie funktioniert einfach, und der Mensch ist halt da, so wie er ist, weil es sich irgendwie so entwickelt hat. So lange es passt mit der menschlichen Entwicklung und dem Universum, bleibt er auch. Und wenn es mal nicht mehr passt, dann verschwindet er auch wieder. Ob der Mensch was falsch verstanden hat oder überhaupt die Fähigkeiten hat, es richtig zu verstehen, das weiß ich nicht. In einem Gedicht habe ich mal den schönen Satz gefunden: „Auch du bist ein Kind des Universums und hast ein Recht hier zu sein.“ Letztendlich geht es doch bei allem Artenschutz um Menschenschutz. Um das Nahrungsnetz, von dem wir abhängig sind. Für die Natur und das Universum geht’s immer weiter, die Dynamik spielt sich immer wieder ein, nach jeder Eiszeit, Heißzeit oder nach einem Meteoriteneinschlag. Als neues System, in dem sich Energie und Nährstoffe in einem Kreislauf befinden, auch mit neuen Arten, neuen Netzen.

Wenn dein Buch verfilmt werden würde, wer würde die Hauptrolle besetzen? Wer würde sicher nicht mitspielen?

Das Buch wäre ja sicherlich eine Naturdokumentation und ich würde einfach einen guten Naturfilmer wünschen, der die Szenen findet oder nachstellt, so dass der Inhalt gut rüberkommt. Oder eine Computeranimation, die könnte man sicherlich daraus machen, mit vielen sprechenden Tieren und Pflanzen und als Hauptfigur würde eine Ratte durchs Geschehen führen. Gesprochen von Christoph Maria Herbst.

Was liegt dir am Herzen und möchtest du gerne zum Schluss unseren Leserinnen und Leser mitgeben?

Meine Erfahrung ist oft, dass viele Menschen nicht aus böser Absicht im Garten und in der Natur unökologisch handeln. Sondern oft, weil ihnen die Informationen fehlen, weil sie es halt so machen, wie man es früher gemacht hat, Beete umgraben, Laub wegholen, alles schön ordentlich glattziehen; ein Teil sicherlich auch, weil man Angst hat, aufzufallen in der Nachbarschaft. Das zu ändern finde ich wichtig und schön; weniger aufräumen, ein bisschen Unordnung – Wildnis – ist der beste Artenschutz, den man im Garten haben kann. Es ist so entspannend und entstressend, nicht immer gegen irgendwas anzukämpfen, was nicht nach Plan wächst, Moos, Giersch, Disteln. Sondern all das einfach zu lassen und sich immer wieder überraschen zu lassen. Ja, dann wächst da eine riesige Distel im Staudenbeet, war so nicht geplant, aber wenn jeden Tag die kleinen bunten Distelfinken den Garten besuchen, um sich an den Samen sattzufressen, ist das ein schönes Schauspiel, Ein Garten voller Natur, eine Umwelt voller Pflanzen und Tiere eine ganz andere Energie, es ist Leben darin und man fühlt sich verbunden, kaum tritt man nach draußen ins blühende Grün, in dem es zwitschert und summt. Dieses Gefühl der Verbundenheit das wünsche ich jedem.

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Redaktionsleitung: Christoph Lang, Nadja Hillgruber

Redaktionelle Gestaltung und Umsetzung: Nadja Hillgruber

Bildnachweis: © Genossenschaft Feuervogel für Naturpädagogik

Das digitale Fachblatt “Nature Flow” ist in seinem 13. Erscheinungsjahr unter dem Dach der Feuervogel Genossenschaft für Naturpädagogik in der Schweiz

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