Schnitzen ist ein Abenteuer mit scharfer Klinge, es beruhigt, macht Spaß und fördert die Kreativität

In einem Artikel vom 27.02.21 war zu lesen „Das Taschenmesser verschwindet, denn es ist nicht mehr in Mode“. Vor einigen Jahrzehnten trug fast jeder Mann von 8-80 ein Taschenmesser bei sich. Am Ende des Artikels der Aufruf „Wer das Taschenmesser rettet, rettet Kulturgut“. Die Zeiten ändern sich, denn den überwiegenden Teil an Taschenmesserbesitzern, den wir kennen sind Frauen, deshalb sollte man besser bei ihnen nachfragen. Mit Astrid Schulte haben wir eine versierte Schnitzkönigin als Interviewpartnerin, die mit ihrer Leidenschaft und Begeisterung inzwischen 672 Löffel und mit gut 5000 Kinder eine Vielzahl an anderen Objekten geschnitzt hat. Sie gehört also ganz sicher zu einer Retterin des Kulturguts „Taschenmesser“ und erzählt uns, wie schnitz-engagiert sie unterwegs ist.

Nature Flow: Liebe Astrid Schulte, laut SWR (Rundfunk) bist du die Schnitzkönigin. Wie siehst du die Gefahr, dass das Taschenmesser verschwindet?
Astrid Schulte: Das sehe ich komplett anders! Das Taschenmesser ist wieder etabliert. Denn Kinder lernen damit umzugehen, über Bücher, Kursangebote, Waldkindergärten, Schulen, Freizeitangebote…(Eltern). Was früher selbstverständlich war, erlebt heute ein Revival. Ich habe in Deutschland mit Erscheinen meines Kindersachbuches Meine Schnitzwerkstatt sicher einen Trend angestoßen, vor allem weil dem Kosmos-Bestseller ein Kinder-Taschenmesser, das Opinel beiliegt. Da hat man gleich das Messer mit den Anleitungen zum Schnitzen als Paket gekauft. Eine persönliche Erkenntnis ist: Als ich 2012 meine ersten Schnitzkurse für Kinder in der Region Stuttgart anbot, waren die Volkshochschulen zurückhaltend. Nur ein paar erklärten sich bereit, den „gefährlichen“ Kurs anzubieten und befürchteten gar, ob die Eltern ihre Kleinen überhaupt zu so etwas anmelden würden. Ich konnte überzeugen. Auch, weil 8 bis 10 Kinder (in großer Runde mit ausreichend Sitz- und Schnitzabstand zueinander) nach 3 Stunden intensiven Schnitzens noch immer alle 10 Finger ihr eigen nannten (lacht). Schnitzen ist ganz einfach, wenn man die Regeln vermittelt und ein Auge auf die Schnitz-Kids hat. Dann entstehen die schönsten Gegenstände und Momente.

Nun gibst du seit 2012 Schnitzkurse und schreibst erfolgreich unter dem KOSMOS Verlag Bücher. Was hast du zuletzt geschnitzt?
Da muss ich gar nicht lange fackeln…. eine Birkenfackel und ein Feuerpusterohr aus Holunder. Und mal wieder eine Weidenflöte (weil ich Weide für einen nachwachsenden Gartenzaun geschnitten habe). Der Zaun musste warten, die Flöte war wichtiger. Ansonsten bin ich bei Löffel Nummer 672. Messer habe ich nicht gezählt, schon wegen der über 5000 Kinder mit denen ich Hasel-, Linden-, Birken- und Erlen-Messer geschnitzt habe.

Schnitzen unterstützt die Vorstellungskraft, die motorischen Bewegungen, Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit. Ich habe bei dir gelesen, für dich ist Schnitzen „die Eierlegende Wollmilchsau“. Wie meinst du das genau?
Umgangssprachlich ist eine Eierlegende Wollmilchsau etwas, das ausschließlich Vorteile hat, viele Bedürfnisse befriedigt, allen Ansprüchen gerecht wird. Für mich ist das Schnitzen mit Grünholz Naturverbindung: Es beinhaltet den haptischen Umgang mit natürlichem Material, bestenfalls halte ich eine Holzgriffschale vom Taschenmesser in der schnitzenden Hand. Es ist ein Abenteuer mit scharfer Klinge, es beruhigt, macht Spaß und fördert die Kreativität. Es bringt die Kinder raus in die Natur, weil Stöcke nicht im Kinderzimmer wachsen. Zudem verbindet das Schnitzen und versetzt in einen fast schon meditativen Flow.

Motivierend und inspirierend lockst du die Kinder und Erwachsenen raus in die Natur. Welche persönliche Erinnerung hast du an deine Kindheit und das Taschenmesser?
Mein erstes Taschenmesser bekam ich mit 6 Jahren von meinem Vater geschenkt. Mit dem habe ich alles gemacht: schnitzen, Dosen öffnen, nähen, Schrauben drehen, spalten, schaben, bohren oder sägen. Es war mein ständiger Begleiter. Taschenmesser sind praktisch, weil sie in die jede (auch Mädchen-) Hosentasche passen. Das Gefühl, in der Hosentasche das Klappmesser zu fühlen, es mit der Faust zu umschließen, mag ich noch heute. Es macht „frei“.

Auch in meinem Bücherregal stand Trixie Belden, die 13-jährige Detektivin, mit der ich fiebernd beim Lesen zahlreiche Abenteuer erlebt habe. Selbst hast du auch einen spannenden Detektiv-Fall der „??? Kids – SOS Schnitzeljagd“ mit Justus, Peter und Bob im KOSMOS Verlag zusammen mit Ulf Blank, dem besten Freund der Kids, veröffentlicht. „Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch“ ist ein Zitat von Erich Kästner….Was meinst du, verrät das dein Geheimnis für dein erfolgreiches Tun?
Ich lese Kästner noch heute – jetzt eher seine guten auf den Punkt bringenden Gedichte. Aber es stimmt ganz und gar: Wenn ich draußen bin, bin ich Kind. Erst gestern habe ich in der Danksagung für mein neues Buchprojekt (erscheint im Frühjahr 2022) geschrieben, dass ich heute wieder ein Naturkind bin, so wie ich es früher als 1o-Jährige war. Dazwischen liegen viele Jahre des Studierens und Arbeitens. Da war die Natur fast vergessen. Erst mit der Fortbildung zur Naturpädagogin in 2011 habe ich auf den schmalen Trampelpfad zurückgefunden. Der war verwachsen und doch konnte ich ihn zu einem schönen Weg ausbauen. Und so laufe ich noch heute barfuß durch Bäche, hebe bei jeder Wanderung einen Stock zum Schnitzen auf, mache Feuer an Grillstellen, schlafe in Hängematten zwischen Bäumen – ich tue, was ich allen Kindern heute wünsche: wild sein, draußen spielen, Abenteuer erleben. Raus aus dem Orbit Kinderzimmer kommen, in denen sich Großteils ihr Leben – zumal unter Pandemie-Bedingungen – abspielt.



Deine Kurse sind nicht nur für Kinder oder Familien, du bietest auch Workshops für Erzieher*innen und Pädagog*innen an. Warum ist es so wichtig, auch dieser Zielgruppe das Schnitzen zu vermitteln? Das ist ganz pragmatisch: Ich arbeite hauptberuflich als Pressesprecherin eines Energieversorgers und habe daher lediglich in meiner Freizeit (am Wochenende) die Möglichkeit, Kurse anzubieten. Die sind randvoll mit Kindern. Das spricht sich rum. Ich habe gar nicht so viel Freizeit, wie ich Kurse geben könnte. Ein bisschen Freizeit brauche ich für mich. 😉 Daher biete ich über euer Pendent in Freiburg Taschenmesser pädagogische Kurse in Deutschland an, zu denen sich interessierte Erwachsene anmelden. Zusätzlich gebe ich Fortbildungen an Gundschulen in Lehrer*innengremien. Wenn es mehr Multiplikator*innen in pädagogischen Einrichtungen gibt, wird das Schnitzen auch dort weiter etabliert. Mit Zertifikat und vielen guten Schnitzanregungen in der Tasche ist es gar nicht mehr so schwierig, auch die Eltern zu überzeugen. Denn an den Elternpflegschaften scheitert es meistens – aus Angst vor dem Umgang mit scharfen Klingen. Nicht an den kreativen Pädagog*innen. Ich bin guten Mutes, dass immer mehr Eltern die Notwendigkeit erkennen, wie wichtig das Schnitzen für das „Über-sich-hinaus-wachsen“ ihres Kindes ist.



Wann geht es bei dir wieder mit Kursen los?
Von mir aus sofort. Schauen wir mal, was der Frühling bringt. Ich bin zuversichtlich.
Welchen Schnitzimpuls hast du für den Frühling?
Im Frühling ist die Weide voller Baumsaft, da bietet es sich an, eine Weidenflöte zu schnitzen. Das ist einfach und erfordert nur beim Beklopfen der Rinde mit der Messergriffschale etwas Geschick, damit diese Rinde nicht reißt. Großartig finde ich den Sausewind zu schnitzen. Ein Kinderspiel, das mir meine Mutter gezeigt hat. Ein Stück Holz wird geschnitzt, zwei Mal durchbohrt und mit Schnur versehen. Dann wird die eingedrehte Schnur gespannt und gelockert, so dass dabei ein Windgeräusch entsteht. Das erfordert gute Motorik und Ausdauer. Den Rekord von 302 gilt es zu brechen. Der liegt aktuell bei einem Kind aus einem meiner Kurse. Dominosteinchen lassen sich schnell aus kleinen Haselstückchen spalten – dann kann das Kettenspiel auch schon losgehen. Auf dem Mittelalterspieß schmecken Äpfel und Grillgut noch besser – und über den Spieß lässt sich gut vermitteln, dass Gabeln erst um 1850 erfunden wurden. Bis dahin nutzte man – selbst in herrschaftlichen Kreisen – Spieße aus Metall oder Holz. Und es gibt zig weitere tolle Sachen, die man jetzt schnitzen kann: Zwille aus Birke (mit Einmachgummi), Brennnessel-Machete aus Walnuss, Göffel aus Erle, Giraffe aus Hartriegel…
Die Alleskönnerkiste wurden mit dem Goldenen Schaukelpferd ausgezeichnet


Kontakt Astrid Schulte www.taschenmesser-paedagogik.de

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