Ein Kulturgut das Kinder nicht mehr interessiert?
von Felix Immler
Schnitzen ist ein wunderbares Hobby für Jung und Alt. 100% analog, komplett akkufrei und ohne 5G-Netz begleitet es uns bei großen und kleinen Abenteuern und schafft so wertvolle Erfahrungen außerhalb der digitalen Welt. Es ist kreativ, sinnvoll und lädt ein, sich in und mit der Natur zu beschäftigen. Ich selbst habe so viel Freude daran gefunden, dass ich es sogar zu meinem Beruf gemacht habe.
Seit 2014 arbeite ich bei Victorinox und habe in dieser Funktion bereits über 400 Schnitzworkshops mit verschiedensten Kundengruppen durchgeführt.
Doch ist die Spezies der messer- und schnitzinteressierten Kinder am Aussterben? Eine grössere Auswahl an Freizeitangeboten, strengere Waffengesetze, rigorose Schulordnungen und ängstliche Eltern, die wenig Bezug zum Thema haben, würden diesen Schluss zulassen. Auf der anderen Seite boomen viele Sparten der Outdoorszene und auch die hohe Nachfrage nach Waldspielgruppen- und Waldkindergartenplätze ist ungebrochen. Vielen Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder einen Ausgleich zur digitalen Welt haben. Ich persönlich spüre nichts von einem nachlassenden Interesse für meine Taschenmesserworkshops, für meinen YouTube-Kanal oder für meine Schnitzbücher.
Das Gegenteil ist der Fall. Ich war in den Startlöchern meine Workshopangebote deutlich auszubauen. Dann kam Corona. Wann und wie es nach Corona weitergeht, bleibt abzuwarten. Ich bin mir aber trotz Corona sehr sicher, dass in unseren Breitengraden das Thema «Schnitzen mit dem Taschenmesser» viele Kinder weiterhin begeistern wird.

Faszination Messer
Viele Kinder entwickeln schon in frühen Lebensjahren eine Faszination für das Thema Messer. In meinem Job als Taschenmesserpädagoge stehe ich fast täglich in Kontakt mit Eltern die sich wundern, warum Ihr Kind diese Faszination entwickelt hat. Ich höre dann Sätze wie: «Wenn meine drei jährige Tochter irgendwo ein Messer sieht, steuert sie wie ferngesteuert darauf los und möchte es greifen» oder «Mein Sohn würde am liebsten den ganzen Tag schnitzen.»
Ich habe mich schon oft gefragt, warum das Taschenmesser für viele Kinder und Jugendliche so attraktiv ist. Eine Umfassende Antwort kann ich wohl nicht bieten, aber einige Erklärungsansätze sind mit schon eingefallen…
- Steinklingen und Faustkeile, die «Vorfahren der heutigen Messer», sind die ältesten Werkzeuge der Menschheitsgeschichte. Schon vor 2 Millionen Jahren nutzten die Urmenschen die scharfen Kanten der Steine als Messer. Heute ist das Messer das wohl häufigste Werkzeug auf unserem Planeten. Fast jeder Mensch braucht mehrmals täglich ein Messer. Der Gebrauch von Messern ist seit Millionen von Jahren so stark im Alltag der Menschheit verankert, dass man schon fast von einem genetisch bedingten Interesse sprechen könnte. Unseren Kindern den sicheren und verantwortungsvollen Umgang mit Messern beizubringen ist eine unumgängliche Lebensschulung!
- Viele Kinder und Jugendliche triggert das Thema Messer und Schnitzen, weil sie spannende Attribute wie «erwachsen sein, Gefahr, Abenteuer, Mut, Macht, Gewalt, Kontrolle, Angst» mit diesen Themenbereichen in Verbindung bringen und weil sie denken an den Herausforderungen im Umgang mit Messern wachsen zu können. Es ist klar, dass auch die «gewaltvolle» Anwendung von Messern einige Menschen fasziniert. Mir ist es ein Anliegen Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass das Messer in erster Linie ein nützliches und vielseitiges Werkzeug ist. Dass Messer auch als Waffen ge- und missbraucht verwendet werden können ist Fakt und sollte mit Kindern auch thematisiert werden.

Was macht das Verbotene eigentlich so attraktiv?
«Messer, Gabel, Licht, ist für kleine Kinder nicht!» Wer kennt nicht diese Formulierung von Heinrich Hoffmann aus dem deutschen Kinderbuchklassiker „Struwwelpeter»? Was mir meine Eltern als Kleinkind mit einem panischen Hechtsprung aus der Hand gerissen haben, als ich Kleinkind war, musste ja interessant sein!! Wir wollen doch nicht dem Muster von Struwwelpeter folgen und unter Androhung und irreführender Belehrung, Kinder zu widerspruchslos funktionierenden Rädchen im Getriebe unserer Gesellschaft machen?
Für Kinder aber auch für Erwachsene wird oft erst etwas attraktiver, wenn es verboten, riskant oder schwierig zu erreichen ist.
Wenn etwas jedoch zu einfach zu erreichen ist oder wir uns sehr sicher sind, dass wir es bekommen oder erreichen, sind wir davon gelangweilt oder verlieren das Interesse daran.
Deshalb bin ich der Meinung das «verbotene» Messer mit dem «attraktiven» Schnitzen» zu verbinden und daraus eine kreative Beziehung wachsen lassen.
Schnitzen mit dem Taschenmesser als Chance?
Schnitzen fördert und fordert wichtige Kompetenzen in der Entwicklung eines Kindes: Ausdauer, Kraft, Feinmotorik, Materialwissen, Aufmerksamkeit, Vorstellungsvermögen und vieles mehr. Wenn Kinder schnitzen wollen, brauchen sie Ruhe und Konzentration, das richtige Messer und geeignete Projekte. Das wichtigste ist meiner Meinung nach aber eine gute Begleitung. Schnitzen lernen ist ein Prozess, wie Fahrrad fahren. Das lernt auch kein Kind in 2 Stunden. Auch hier gilt die Devise: «Übung macht den Meister!» Mit sehr viel üben und die Begleitung eines guten, geduldigen Lehrers oder eine geduldige Lehrerin sind die Kinder angewiesen. Mit einem guten Vorbild an seiner Seite und einem lohnenden Ziel vor Augen steigt seine Bereitschaft, dranzubleiben und die nötigen Techniken zu üben. Schnitzen als Teamwork macht Spaß und stärkt die Beziehung zum Kind. Denn nichts ist verbindender als gemeinsames Handeln für ein gemeinsames Ziel. – Eine wunderbare Einladung zur Beziehungsgestaltung zwischen zwei Generationen.

Nein, das Thema (Taschen-)Messer wird nicht aussterben, auch wenn einige gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen das Erlernen des Umgangs mit diesem Werkzeug nicht gerade fördern.
Die Faszination Taschenmesser wird bleiben. Wer Unterstützung, Ideen oder Rat braucht bezüglich Regeln, Techniken oder Projekten mit dem Taschenmesser, dem empfehle ich meine Bücher zu lesen und meinen YouTube-Kanal zu besuchen.
Mit Schritt-für-Schritt Anleitungen, die für Erwachsene, Pädagogen, Lehrpersonen und Kinder geeignet sind. Oder aus einfachsten Naturmaterialien ein wasserdichtes Dach, Stuhl, Tisch und Bett, einen Kühlschrank und einen Ofen bauen, Löffel, Messer und Essschalen schnitzen. Das Brathähnchen wird am wasserbetriebenen Grillspiess gebraten. Eine Fülle an Ideen für spannende Aktivitäten vor der Haustür, die Kinder und Jugendliche begeistern.
Link zu meinen Taschenmesserbüchern Link zu meinem YouTube-Kanal

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Die kindliche Faszination hat aus psychoanalytischer Sicht noch weitere Gründe: Mit einem Messer kann man etwas erschaffen, verändern, teilen bzw. trennen – das kleine Kind beobachtet die Eltern beim kochen: da wird etwas verwandelt, es entsteht etwas Neues. Großes wird klein gemacht, handlich, mundgerecht.
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