von Geseko v. Lüpke
Wir alle kennen das unerklärliche Gefühl, dass sich auftut, wenn wir nachts am Feuer sitzen und über das Knistern des brennenden Holzes Geschichten lauschen, die erzählen von den Rätseln und Geheimnissen des Lebens, vom Unerklärlichen, vom Profanen und Heiligen, von menschlichen Erfahrungen. Das ist wie eingeprägt in die Zellen unseres Körpers, sagt Jon Young, amerikanischer Erzählforscher und Wildnispädagoge, den es immer wieder zu den Buschleuten im Süden Afrikas zieht, wo alles anfing:
„Diese Menschen haben sich seit mindestens 130.000 Jahren Geschichten erzählt. Sie sind die gemeinsamen Urahnen der Menschheit aus der Kalahari und dem Rift-Valley, auf die man uns alle genetisch zurückführen kann. Die Frühgeschichtsforschung sagt, dass die ersten Menschen schon vor eine Viertelmillion Jahren an der Küste Südafrikas, nahe dem heutigen Kapstadt, um das Feuer saßen. Ich glaube wirklich, dass es soweit zurückgeht.“ Und vielleicht sitzen sie schon doppelt so lang.
Heilige Bücher gibt es in der langen Geschichte der menschlichen Spezies erst seit kurzem. Über Jahrhunderttausende wurden die Parabeln, Legenden, Mythen und Geschichten – die Essenzen menschlicher Erfahrungen – im nächtlichen Kreis am Feuer erzählt. Die orale Tradition des ‚Storytelling‘, die ‚Geschichtenerzählens‘ diente der Weitergabe kultureller Traditionen, sozialer Regelwerke, der Stammesgeschichte – aber auch der spirituellen Traditionen.

Die oft über zahllose Generationen unverändert erzählten Geschichten wirkten dabei wie eine Brücke zu den Ahnen in der Vergangenheit, verbanden Mensch und Land, und wirkten wie ein Garant für kulturelle Traditionen. David Archie, Medizinmann bei den Squamisch an der kanadischen Westküste, beschreibt, was wohl für alle nomadisierenden Völker zu allen Zeiten galt.
„Es hätte keinen Sinn gemacht Dinge festzuhalten und aufzuschreiben, die wir dann hätten transportieren müssen. Also verwahrten wir die Informationen in unseren Herzen und Köpfen. Wohin wir auch kamen, feierten wir die erzählten Erinnerungen als tiefe Verbindung zum Land. Wenn eine neue Erinnerung und Verbindung dazu kamen, passierte das im Kontakt mit dem, was an Geschichten schon da war. Sie wurden mündlich, ohne Schriftsprache, von Generation zu Generation weitergegeben. Indem es von den Ältesten an die Jüngeren übermittelt wurde, entstanden keine Hierarchien, alle waren gleich wichtig und jeder war Teil des Ganzen.“
Erst langsam wird den Kulturhistorikern und Anthropologen klar, dass die schriftlosen Völker der ‘grauen Vorzeit’, die alles mündlich weitergaben, nicht ‚primitiv‘ genannt werden können. Im Gegenteil. Geschichten in Jäger- und Sammlerkulturen zu erzählen war eine hohe Kunst, die ein spezielles Training erforderte, eine Übung in Naturverbundenheit, ein Training der Achtsamkeit.
Die Erzähler und Erzählerinnen wurden darin ausgebildet, ihre Sinne so zu schärfen, dass sie eine maximale Wahrnehmung der lebendigen Welt entwickelten. Dazu gehörte Spuren zu lesen, Tiergeräusche zu verstehen, das Wetter zu lesen, mit der eigenen Intuition verbunden zu sein. Jon Young, der immer wieder bei den südafrikanischen KhoiSan, den Buschleuten, in die Lehre geht, gibt einen Eindruck jener Kunst, die darin besteht, vergangene Erfahrungen so zu erzählen, dass die Zuhörer meinen, es geschähe alles in ihrer Gegenwart: „Wenn sie etwas erzählen, was in der Vergangenheit passiert, ob real oder im Land der Mythen, lassen sie uns über unsere Ohren, unseren Geruchssinn, unsere Emotionen, über alle verfügbaren Sinne am Geschehen teilhaben. Darin liegen die Kunst und die Macht des Geschichtenerzählens. Dabei sind Spurenlesen und Geschichtenerzählen eng miteinander verbunden. Wenn Du von der Jagd zurückkommst, bringst Du eine Geschichte mit, die alle die nicht dabei waren, abends am Feuer von Deinen Erfahrungen lernen lässt. Und die Ältesten hören zu und stellen so sicher, dass wirklich alle mentalen Fähigkeiten des Erzählers entwickelt sind.“
In jenen frühen Kulturen, die in unmittelbarer Symbiose mit der natürlichen Welt lebten, war das Geschichtenerzählen mehr als Unterhaltung. Es war eine Schule der Verbundenheit mit der lebendigen Welt, es war die Qualitätskontrolle für offene Sinne, es war Lebenslernen, es war Gefahrenabwehr für’s Kollektiv.
Geschichtenerzählen war überlebenswichtig, gerade in einer Welt voller Raubtiere, sagt der Anthropologe und Wildniskenner Jon Young und erzählt selbst eine Geschichte, die ihm die KhoiSan erzählten.
„Es gibt in der zentralen Kalahari Botswanas einen Ältesten namens Sanama. Er ist Heiler bei den KhoiSan, aber auch Geschichtenerzähler. Ich saß eines Abends bei ihm, als er mir sagte, er würde später den Kindern des Stammes eine Geschichte erzählen. Es sei die älteste Geschichte, die er kenne, meinte er. Und es ist sicherlich auch die kürzeste, denke ich. Der Unterhaltungswert für die Kinder war groß: Sie wussten, der alte Mann erzählt. Sie kannten die Geschichte. Und sie kamen alle zusammen. Das Feuer wurde entzündet. Und er begann: „Vor langer langer Zeit fraßen die Löwen viele von uns Buschleuten. Ja, sie aßen viele von uns!“ Das war die ganze Geschichte, Anfang, Mitte und Ende. Die Kinder hatten sie schon Hundertmal gehört und wollten sie immer wieder hören. Sie dauerte 20 Sekunden.
Solche existentiellen Gefahren, denen der Mensch in seiner langen Geschichte ausgesetzt war, haben wohl dazu geführt, dass er – unabhängig von Alter, Milieu und Kultur – so empfänglich ist für das Medium ‚Geschichte‘. Es galt, voneinander zu lernen, Wissen auszutauschen, sich über Gefahren zu informieren. Bis heute, so weiß die Neurobiologie, funktioniert das Gehirn erfahrungs- und gefühlsorientiert so, dass es entweder selbstgemachte Erfahrungen tief abspeichert oder aber authentisch erzählte Geschichten von existentiellen Erlebnissen. Beides hilft dem Menschen, in eigenen Krisensituationen dann richtig zu reagieren.

Doch der Zauber des ‚Storytelling‘ an den zeitlosen Lagerfeuern der Welt geht noch weiter. Mit den urzeitlichen Geschichten entstand Weltdeutung, mit Weltdeutung Bewusstsein, mit Bewusstsein Kultur, Identität, Gemeinschaft. Der Strom des Seins wurde in Erzählungen benannt, definiert, differenziert. Durch den zwischenmenschlichen Austausch über existentielle Erfahrungen im Geschichtenerzählen strukturierte sich Wahrnehmung, entstanden Strukturen im Gehirn. Ein unglaublicher Prozess zwischen äußerer und innerer Welt begann, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther:
„Der Sitz der Sprache ist das gesprochene Wort. Hier werden also kulturell gemachte Erfahrungen transkulturell weitergegeben und diese Erfahrungen werden immer wieder in jeder Generation im Hirn der jeweiligen Nachkommen zu erfahrungsbedingten Strukturen umgewandelt. Es ist ein toller Prozess, der jetzt schon fast esoterische Dimensionen annimmt, denn hier wird ja etwas Immaterielles in Materie verwandelt. Eine Erfahrung hinterlässt im Hirn Spuren, die der Hirnforscher in Form von neuen Vernetzungen sehen kann. Und diese neuen Vernetzungen, diese materielle Struktur, erzeugt dann Gedanken und Bewusstsein und Worte, die man nun wieder gar nicht mehr sehen kann, die ganz und gar immateriell sind. Also dieses große Kunststück der Verwandlung von Materie in Geist und von Geist in Materie ist das, was ständig in unserem Hirn ohnehin stattfindet.
Im Geschichtenerzählen – seien es Jagderlebnisse, exemplarische Lebenserfahrung, kulturelles Wissen, Welterklärung, Schöpfungsmythen oder Erfahrungen des Numinosen, Spirituellen, Religiösen – gestalteten sich über Jahrzehntausende Kulturen in ihrer ganzen Vielfalt. Ohne Schrift. Und die oralen Traditionen waren wie ein Netz aus Weisheiten, welche die Menschen durchs Leben trug. Sie boten Sicherheit, Orientierung, Sinn. Märchen entstanden daraus, Mythen, Heldengeschichten, aber auch Handlungsanweisungen für die individuellen Übergänge, sagt der walisische Geschichtenerzähler und Mythologe Martin Shaw.
„Mythen, Dichtung, Märchen und Geschichten sind so eine Art geheimer Geschichte der Welt. Sie sind als magisches Wissen Teil der Welt des Stammeskulturen, dass über Jahrhunderte weitergegeben wurde. Viele der Geschichten handeln von der Beziehung zwischen der Kultur – dem Stamm, dem Dorf, der Stadt – und den wilden Regionen drum herum: mythischen Orten voller Bären, Wälder, Berge und Flüsse. Und die Geschichten drehen sich dann oft darum, den sichern Ort – Familie, Arbeit, Heimat, Identität zu verlassen.“ Und diese großen Mythen, so Martin Shaw, hatten immer was mit der individuellen Biographie zu tun: „Wenn Du über einen guten Erzähler der richtigen Geschichte begegnest, kannst Du Dich in den Fragen Deines eigenen Lebens wiederfinden: Wo hast Du Deinen Weg verloren? Was ist die Krise Deines Lebens? Mit welchen Drachen musst Du kämpfen? Wo kann Kummer und Not zu Schönheit werden? Und auf diese Weise können Mythologie und Geschichten Dir helfen, Deinen Lebenssinn wiederzuentdecken. Sie sind wie Schatztruhen, die Bilder und Metaphern enthalten, die Dir dabei helfen mit Stil und Würde durchs Leben zu kommen.“

Erst viel später wurden die Geschichten und Mythen, die über zahllose Generationen nur mündlich überliefert worden waren, verschriftlicht. In den großen Heldensagen und Märchen, aber auch in ‚heiligen Büchern‘, den Upanischaden, der Bibel, dem Koran. Um sie herum bildeten sich nicht nur kulturelle und religiöse Institutionen, sondern auch Ideologien und Riten, welche ‚die Schrift‘ auslegten, nicht aber mehr ‚das Wort‘. In der Moderne und ihrer medialen Vielfalt ist die uralte Tradition des ‚Story Telling‘ fast ausgestorben, damit aber auch der lebendige Zugang zum Wunder des Lebens verschüttet. Heute erzählen Kino und TV die Geschichten, die konsumiert werden, aber kaum mehr wirken. Doch es gibt Bemühungen, die alten Werkzeuge neu zu entdecken und den alten Zauber des Erzählens neu zu wecken.
Dafür müssen Fähigkeiten neu trainiert werden: Die Körperhaltung, die Betonung, der Kontakt zum Hörer, die Dramaturgie, die emotionale Durchdringung, die sinnliche Präsenz. Es sind fast dieselben Qualitäten, die seit Jahrzehntausenden von den Geschichtenerzählern in indigenen Kulturen trainiert werden. Denn auch dort überließ man das ‚Storytelling‘ nicht Hinz und Kunz, sondern suchte sich die Talente und trainierte sie. Dabei war die Ausbildung zum Erzähler auch eine Art spiritueller Schulung. Ging es doch darum, alle Sinne zu öffnen und die jeweilige Erfahrung in der größtmöglichen Aufmerksamkeit und Verbundenheit wahrzunehmen. Und je mehr das gelang, desto mehr war man im Kontakt mit dem Ganzen, dem Göttlichen, dem Heiligen und konnte auch heilen, glaubt der Anthropologe und Kulturforscher Jon Young.
«Mit ‘heilig’ ist dann ‘vollständig verbunden’ gemeint. In vielen indigenen Sprachen ist das ‚Heilige‘ und die ‚Verbundenheit mit allem, was ist‘ praktisch das Gleiche. Geschichtenerzähler hatten die Fähigkeit, Menschen mit Dingen, Erfahrungen, ja mit ‚dem Wunder‘ zu verbinden. Und in vielen Kulturen waren sie zugleich die Heiler. Denn ‚Heilen‘ bedeutet doch, Zerbrochenes wieder zusammen zu fügen. Indem die Erzähler das mit Worten machten, heilten sie und heiligten das, was Heiligkeit verloren hatte. Und das ist dann Heilung.»
Geschichtenerzähler brauchen Zuhörer, brauchen Gegenüber, brauchen Gemeinschaft. In einer Gesellschaft, in der niemand mehr richtig zuhört, gibt es auch keine Geschichtenerzähler. Und wo niemand aufmerksam, neugierig und emphatisch zuhört, erzählt auch niemand mehr seine eigene Lebensgeschichte, den eigenen Mythos, die eigene Heldenreise voller Kämpfe, Prüfungen, Herausforderungen, Niederlagen und Siege.
Doch dann verlieren sich die Menschen, verlieren den Sinn, den Stolz, die Würde und Identität. Sie fühlen sich nicht mehr, werden zum ungesehenen ‚Nobody‘, vegetieren im sozialen Niemandsland. Dazu kann es kommen, wenn Minderheiten nicht gehört werden, wenn Alte ausgegrenzt werden, wenn Vertriebene und Flüchtlinge ihre Geschichte nicht erzählen können. Das ist überall so! Im südafrikanischen Kapstadt hat die Sozialaktivistin Gilian Wilton, die selber von den Buschleuten, den ‚KhoiSan‘ abstammt, deshalb einen ‚Storytelling Garden‘ gegründet, wo im Erzählen das Schweigen, die Scham, die Isolation durchbrochen werden kann und man sich wieder zuhört.
Dahinter steht die Idee, sich – über alle Unterschiede hinweg – zuzuhören und zu bezeugen, um die größere Gemeinschaft zu stärken: „Wir sehen so viele traurige und einsame Menschen, die nicht an sich glauben. Wenn sie ihre Geschichte erzählen, werden sie als das gesehen, was sie sind und erkennen, welches Geschenk ihre einzigartige Biographie für andere ist. Und wenn wir einander zuhören, erkennen wir auch, dass wir nicht allein sind.“

Fast alle Geschichte erzählen vom Wandel, der Mythenforscher Joseph Campell sprach sogar vom ‚Monomythos‘ der Transformation und dem Grundmuster „Verlassen des Bekannten / Schwellenphase / neues Leben“. Wenn keine Geschichten vom Wandel mehr erzählt werden, fehlen die Vorbilder und Archetypen der Veränderung. Dann bleiben Menschen bei ihren einmal angenommenen Biographien und sind unfähig sich zu verändern.
Identität ist die Geschichte, die wir uns selbst über uns erzählen. Sie ist der Orientierungsrahmen, mit dem wir festlegen, wer wir sind, was wir können, wofür wir leben, woran wir glauben. All diese Orientierungen ergeben dann unsere Geschichte, die uns hilft, dem Leben einen Sinn zu geben. Damit das Leben einen Sinn hat, muss die Geschichte aber aufgehen, sagt die Schweizer Psychologin und Therapeutin Ega Friedmann.
„Wenn unsere Geschichte nicht mehr aufgeht, verlieren wir den Sinn. Darum ist es so schwierig, seine Geschichte zu verändern. Die Geschichten bewegen sich nicht mehr, wenn wir voller Ressentiments sind gegen das, was in der Vergangenheit passiert ist. Alle diese negativen Gefühle halten uns in der alten Geschichte fest und wir können sie nicht mehr erweitern.“ Doch wir haben die Möglichkeit, unsere Geschichte umzuschreiben, sagt die Autorin und Psychologin: „
Neue Narrative können in allen Übergängen entstehen. In der Regel versucht man zuerst sogenannte objektive Lösungen, bevor man entdeckt, dass sich etwas von der eigenen Lebensgeschichte verändert hat, dass die alte Geschichte nicht mehr weiter geht, dass sie öde und langweilig wird. Es wird etwas depressiv, es ist uninteressant, es hat keine Perspektive mehr. Und dann kommen die Zeichen, die Dir sagen, da könnte eine neue Perspektive auftauchen. Da ist der Anfang von einer veränderten Geschichte. Sobald wir eine Geschichte mehr als von einem Standpunkt aus betrachten können, haben wir die Freiheit sie neu zu arrangieren. Und das gibt uns eine neue Zukunft, gibt uns neue Möglichkeiten: die Fähigkeit, unsere Wahrnehmung ein kleines bisschen zu verschieben.“
Was früher vielleicht von geschichtenerzählenden Heilern begleitet wurde, ist heute die Aufgabe der Therapeuten. Sie helfen, wenn alte Geschichten kollabieren, aber neue noch nicht sichtbar sind. Sie hören sich die Geschichten ihrer Klientel an, kratzen an den Wurzeln der überholten Selbstbilder, spüren Widersprüche und prägende Traumata auf. Im besten Falle zerbricht dann die alte Rüstung, die nicht mehr passt und eine neue Identität, eine neue Geschichte mit neuem Sinn bekommt Raum. Dann wachsen die Menschen. Und das Gefühl von Sinnlosigkeit und Sterben transformiert sich in die Erfahrung von Neugeburt. Tausende von alten Geschichten thematisieren diesen Archetyp von Tod und Wiedergeburt.
Der alte Archetyp wirkt weiter. Was kulturell aber neu ist, ist das Wissen um die Macht der eigenen Geschichte und die unbegrenzte Möglichkeit, sie zu verändern. Dazu braucht es ein Wissen um die eigene Geschichte, ein ‚narratives Bewusstsein‘, erklärt der Philosoph Tom Amarque.
„Ich glaube der erste Schritt ist, sich bewusst zu machen, dass wir, egal wann wir den Mund aufmachen, wir immer nur Geschichten erzählen. Wir erzählen Geschichten darüber, was wir gestern gemacht haben, was wir morgen machen werden, wie wir die Welt deuten. Das heißt, sobald wir über irgendetwas sprechen, tun wir das immer in Geschichtsform.“ Die Welt, so der Philosoph, gestaltet sich in Narrativen: „Ganz einfach würde ich sagen, dass Narrative erst mal Erzählstrukturen sind, bzw. Tiefenstrukturen der Psyche und von Kommunikation, wodurch wir unsere Wahrnehmung strukturieren. Um die Welt überhaupt in irgendeiner Form verändern zu können, muss man zu einem gewissen Grad auch seine Narrative verändern, oder zumindest erweitern, hinterfragen und für sich neu prüfen. Vom Klimawandel, von Kapitalismus, Ökonomie, Beziehung, damit wir da auch eine andere Perspektive auf die Ereignisse der Welt einnehmen können, um uns adäquater und moralischer verhalten zu können. Um diese Sachen zu verändern, muss man erst mal das Storytelling verändern.“
Die Welt ist, wie wir sind, und weil wir sie so gestalten. Wenn unsere Geschichte sich wandelt, dann strukturieren wir unsere Wahrnehmung um, verändern unsere Handlungen und wandeln die Welt. Das kennt jeder, der sich einmal verliebt hat: Die Welt beginnt zu leuchten, alles fließt zusammen.

Können wir also mit neuen Geschichten über uns die Wirklichkeit verändern? Dann wären neue Geschichten so etwas wie eine Intervention zur Erweiterung unserer Erfahrungsräume. Solche Geschichten lassen sich sogar inszenieren. Man setzt ein Gerücht in die Welt, behauptet etwas, sprengt eingefahrene Geschichten auf. Das ist der Arbeitsbereich der Berliner Firma der ‚Story Dealer‘, der ‚Geschichten-Händler‘, die mit gezielten Interventionen eingefahrene Strukturen von Unternehmen und Behörden aufknacken, erzählt ihr Gründer Hans Geißlinger.
„Storyteller heißt, man bleibt im Bereich des Narrativen. Es geht darum, Geschichten zu erzählen, Geschichten anzuhören, aber wesentlich elementarer ist es, Geschichten zu erleben. Die Storydealer gehen noch einen Schritt weiter. D.h. wir setzen Geschichten in die Welt, wir initiieren einen Virus in dem Blutkreislauf eines Unternehmens oder einer Kultur. Also man kann sagen, Geschichten ziehen Realitäten nach sich, die es ohne sie nicht gäbe.“
Deutlich wird: ‚Storytelling‘, Geschichten erzählen, mag uralt sein. Altmodisch oder überholt ist es aber sicher nicht. Es wird vielmehr erst richtig entdeckt.
Wenn die Welt aus Geschichten besteht, bleibt die Frage: Was ist, wenn wir in einen Raum der Stille kommen, wo keine ‚Story’s‘ mehr sind? In der Wortlosigkeit der Meditation? In der mystischen Erfahrung? Dann kann sich – so scheint es – beides auftun: Der Schrecken der Leere oder die Gegenwart des Göttlichen. Der Philosoph Tom Amarque:
„Letztendlich ist die Erfahrung dieses Nichts und dieser Leere ja das, worauf es ankommt. Und da sind tatsächlich keine Narrative und keine Worte. Das ist ja gerade die Abwesenheit von all dem. Hinter den Narrativen liegt nichts. Das ist der springende Punkt: Es gibt nichts jenseits der Erzählungen. Auf der anderen Seite ist eben die Formlosigkeit. Da ist Nichts. Das sind die zwei Strömungen unserer Kultur. Einerseits der Strom zur Verwirklichung besteht und das auf der anderen Seite der Versuch ist, sich von der Form und den Narrativen zu befreien.
Vielleicht ist all das erahnbar, wenn wir wieder Geschichten lauschen. Vielleicht sind wir wie die ersten Menschen, die vor 250.000 Jahren um das Feuer saßen und mit Geschichten die bedrohliche Dunkelheit des Nichts ausfüllten.
Vielleicht brauchen wir auch alte Geschichten in einer Zeit, in der wir das Maß verloren haben und glauben, gottgleich jede Wirklichkeit erschaffen zu können.

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