Für dieses Interview hätte ich mir niemand anderen wünschen können, als Ruth Blattner von Yoga am See in Ermatingen. Jede Jahreszeit hat ihr eigenes Thema. Im Februar soll das Licht über unsere inneren Energiebahnen seinen Weg finden und mit Kraft den Neubeginn starten, statt im Strudel des Alltags unterzugehen. Mit ihren Antworten nimmt sie uns auf eine innere Reise mit. Durch ihre langjährige Erfahrung, weiss sie einfühlend, den Bezug vom Mensch zur Natur greifbar und ineinanderfliessend übergehend zu lassen. Inspirierend und aufgehoben nehmen wir euch mit, Neues zu entdecken.
Infothek Waldkinder: Liebe Ruth, die Farben unserer Eislaternen auf der Titelseite erinnern mich an die Farben der Chakren. Die Tage werden wieder länger, wir werden vom neuen Licht berührt. Welche Assoziationen fallen dir dazu im Yoga ein?

Ruth Blattner: Licht und Chakren sind beides energetische Konzepte, die im traditionellen Yoga eine zentrale Rolle spielen. Licht und Chakren sollen durch die Yogapraxis im Körper erweckt, belebt und erfahren werden. Ursprünglich war Yoga ja eine reine Meditationspraxis und die Körperübungen sollten “nur” den Körper gesund und kräftig halten, um möglichst lange im Meditationssitz verharren zu können. Robert Cottet, einer meiner wichtigsten Yogalehrer, betonte immer wieder, dass es beim Yoga ausschliesslich um die innere Lichterfahrung gehe, also um Erleuchtung. Die Chakren müssten dazu gereinigt und durchlässig sein, so dass das Licht über die Energiebahnen zum höchsten Chakra aufsteigen kann.
…das Licht ist die stärkste Kraft…
– Das sind sehr hohe Ansprüche, die wir “normalen” Alltagsmenschen kaum erreichen werden. Für mich persönlich ist jedoch das Licht, ob alltäglich oder spirituell, die stärkste Kraft … und ich freue mich sehr, dass die Tage wieder länger werden. Trotzdem ist mir auch das Dunkle wichtig, denn auch dort geschieht Wachstum, entsteht Leben. Der Embryo und der Same entfalten sich ja nicht im Licht, sondern im Dunkeln. Und ich denke, dass viele innere Prozesse in der Tiefe, eben im Dunkel stattfinden, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind.
Infothek Waldkinder: Anfang Februar beginnt die lichterfüllte Frühlingszeit. Der Frühling steht für einen Neubeginn, wir können über uns hinauswachsen, Altes hinter uns lassen und für mehr Balance sorgen. Welches Element verbindest du mit dem Frühling?
Ruth Blattner: In den chinesischen Traditionen wird der Frühling dem Element Holz zugeordnet. Das Schriftzeichen Mu zeigt eine Pflanze, das den Erdboden durchbricht – was könnte schöner und treffender den Frühling bezeichnen?

Infothek Waldkinder: Ein starkes Holz-Element zeugt von Mut, über Grenzen zu gehen, sich kreativ auszudrücken, Visionen zu leben und seine Talente zu verwirklichen. Was empfiehlst du wie man sich mit diesem Element verbinden kann?
Ruth Blattner: Im Yoga regiert das Nabelchakra die Organe Leber/Galle, welche dem chinesischen Element Holz zugeordnet sind. Das bedeutet, dass im Frühling das Verdauuungsfeuer gut angeheizt werden sollte, um die wässerige Winterqualität aus dem Körper zu vertreiben. Da machen kräftigende, reinigende Atem- und Körperübungen viel Sinn. Denn wir brauchen Kraft, dass wir mutig, visionär und schöpferisch sein können. Gleichzeitig können wir aber auch die Achtsamkeitspraxis kultivieren, indem wir dieses Naturwunder, dieses kraftvollen Auf- und Durchbrechens des kleinsten Grashalms, bewusst und dankbar wahrnehmen – und damit auch würdigen.
Infothek Waldkinder: Die Zeit zwischen den Jahreszeiten ist die Phase des Wechsels und des Übergangs. Vom kalten Winter zu den ersten wärmeren Sonnenstrahlen im Frühling. Es sind heikle Momente, die uns leicht aus der Mitte bringen. Wie können wir es schaffen das Gleichgewicht zu finden?
…Selbstfürsorge und Achtsamkeit sind wichtig…
Ruth Blattner: Ja, im Ayurveda und auch in der TCM (Traditonellen Chinesischen Medizin) werden die Jahreszeitenwechsel immer als kritische Phasen angesehen, in denen Körper und Seele besondere Zuwendung und Schutz benötigen. Unabhängig von Jahreszeiten, scheinen mir Selbstfürsorge und Achtsamkeit ganz wichtig, damit wir uns nicht abhandenkommen im Strudel der alltäglichen Herausforderungen. Es wäre wunderbar, wenn es uns gelingt, jeden Morgen für eine bestimmte Zeit in der Stille zu sitzen.

Ebenso wunderbar, wenn wir tagsüber auch nur für einen kurzen Moment achtsam sind, achtsam atmen, hören, sprechen, mit unserer ganzen Achtsamkeit im Kontakt mit anderen sind. Das ist ein Weg zur Zentrierung. Vielleicht bringt uns auch ein Spaziergang in unsere Mitte, vielleicht ist es gerade der nervige Stau oder das routinierte Zähneputzen … was immer es auch sei: der Achtsamkeit ist es völlig egal, wann und wobei wir ihr Raum geben!
Infothek Waldkinder: Der Frühling steht symbolisch für die kreative Schöpfungskraft. Wie kann Yoga helfen, die eigene Schöpfungskraft bewusster wahrzunehmen?
Ruth Blattner: Wenn wir in unserer Kraft sind und aus unserer Kraft schöpfen, entsteht ein Drittes. Das geschieht auch im Yoga. Wenn wir ganz präsent im Hier und Jetzt sind, in diesem Körper, in diesem Atemzug, und der Geist zur Ruhe kommt, dann entsteht ein Drittes, eine andere Qualität von Bewusstheit. Ich glaube, dass wir in solchen Momenten unser “Schöpfungskraft-Reservoir” füllen und zum Strömen bringen. Es gibt in den Upanishaden einen wundervollen Text:
“Jenseits ist Fülle, diesseits ist Fülle, aus Fülle kommt Fülle hervor. Nimmt man die Fülle aus der Fülle, so bleibt nichts als Fülle.” (Isha-Upanishad 1.1, aus: Upanishaden, von Bettina Bäumer)
Je mehr ich aus mir schöpfe, desto mehr füllt es sich in mir – dieses von meinem Willen unabhängige in der Fülle-sein und aus der Fülle-schöpfen kann in der Yogapraxis erfahren werden.
Infothek Waldkinder: Als Sinnesorgan werden die Augen dem Element Holz zugeordnet. Ich möchte meinen Blick für die Wahrnehmung mit Unterstützung von Yoga fokussieren, damit ich klarsehen kann. Wie gelingt mir das?

Ruth Blattner: Die klassischen Schriften sagen kurz und bündig: Beruhige den Geist, dann kommen die mentalen Wellen (Gedanken) zum Stillstand. Dann wird die Sicht klar, so wie das Wasser sich klärt, wenn Algen und Treibgut entfernt werden. Die Yoga-Philosophie geht davon aus, dass die Unruhe unseres Geistes eine der grossen Ursachen des menschlichen Leids ist. Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie wirklich sind, weil unser Blick abgelenkt und getrübt ist durch Gewohnheiten, Vorurteile, Erinnerungen, negative Gefühle und Illusionen. Deshalb muss der Geist zur Ruhe gebracht werden – aber wie gelingt mir das? Ich glaube, der Schlüssel ist erneut die Achtsamkeit und die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Für mich ist es ein lebenslanges Bemühen, mit grösstmöglichem Mitgefühl und Wohlwollen und ohne mich an das Ziel zu binden.
Infothek Waldkinder: Liebe Ruth, vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast, um mit uns auf diese innere Reise zu gehen. Deine Haltung zeigt uns, wieviel Zuwendung und Schutz unser Körper und Seele im Jahreszeitenwechsel braucht. Das nehmen wir gerne mit.


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